Schätzungsweise 30 bis 100 vollverschleierte Frauen leben in der Schweiz. Um diese doch eher doch eher kleine Minderheit dreht sich der Abstimmungskampf der Verhüllungsinitiative hauptsächlich. Oder genauer: Um ein Kleidungsstück dieser Minderheit tobt ein heftiger politischer Streit. Burka und Niqab verbieten oder das Verhüllungsverbot ablehnen: Was schützt Frauen mehr?
Für die einen gehört sie verboten, um die von der Schweizer Verfassung garantierten Grundrechte sicherzustellen und insbesondere die Rechte der Frauen zu schützen. Für die anderen würde genau das Verbot davon ein Eingriff in die Grundrechte und ein Angriff auf die Selbstbestimmung der Frauen bedeuten.
Die Rede ist von der Burka, dem Niqab und anderen Kleidungsstücken, die das Gesicht einer Person verhüllen. Kreise, die der SVP nahe stehen, haben 2017 die Volksinitiaitve «Ja zum Verhüllungsverbot» eingereicht. Sie fordern, dass im öffentlichen Raum in der Schweiz niemand sein Gesicht verhüllen darf. Ausnahmen sollen für Sakralstätten (wie Moscheen, Kirchen oder Synagogen) gelten und zum Beispiel auch für den Gesundheitsbereich: Das Tragen einer Hygienemaske, wie wir uns das seit einiger Zeit im öffentlichen Raum gewohnt sind, gilt im Verständnis der Initiant_innen nicht als verbotene Verhüllung.
Die Schweizer Bevölkerung stimmt am 7. März darüber ab, ob gesichtsverhüllende Kleidung in der Schweiz künftig verboten sein soll. Bundesrat und Parlament lehnen die Verhüllungsinitiative ab. Mit Ausnahme der SVP sind alle anderen grossen politischen Parteien der Schweiz gegen das Verhüllungsverbot.
Wer greift wie in die Grundrechte ein?
«Es geht beim Verhüllungsverbot um ein Grundrecht, nämlich um die Gleichstellung von Mann und Frau, die von unserer Verfassung garantiert wird», sagt Monika Rüegger, SVP-Nationalrätin aus dem Kanton Obwalden am digitalen Discuss it-Podium zum Verhüllungsverbot. Für sie sind Burka und Niqab nicht einfach nur Kleidungsstücke, sondern Symbole für die Unterdrückung der Frau: «In der islamischen Lehre gilt der ganze Körper der Frau als etwas Unanständiges und darum müssen Frauen sich verhüllen. So werden die Frauen dem Mann untergeordnet, er kann über sie entscheiden», sagt Rüegger, für die klar ist: «Das ist mit unserer Kultur nicht vereinbar.»
Anders sieht das Yvonne Feri. Die SP-Nationalrätin aus dem Kanton Aargau ist der Meinung, dass die Initiative das Gegenteil von dem erreicht, was sie vorgibt, erreichen zu wollen: die Rechte der Frauen zu stärken. «Die Verfassung ist der falsche Ort für Kleidervorschriften. Das Verhüllungsverbot greift in verfassungsmässige Vorschriften wie die persönliche Freiheit oder die Glaubensfreiheit ein», sagt Feri. Generell sei es nicht Aufgabe des Staates, Kleidervorschriften zu erlassen: «Eine liberale Gesellschaft überlässt es dem Individuum, sich nach Belieben zu kleiden, solange dabei niemand zu Schaden kommt. Frauen gehören vom Staat weder ausgezogen noch eingehüllt», so Feri.
60 Bussen im Tessin seit 2016
Das Anliegen der Initiative ist nicht ganz neu: Bereits heute gibt es zwei Kantone, die ein Verhüllungsverbot im Sinne der vorliegenden Initiative eingeführt haben. Der Kanton Tessin hiess ein solches 2016 an der Urne gut, der Kanton St. Gallen zog 2018 nach. Für diese beiden Kantone lässt sich entsprechend eine erste Zwischenbilanz ziehen: Im Tessin wurden seit 2016 60 Bussen wegen Verstössen gegen das Verhüllungsverbot ausgesprochen. In 28 Fällen betraf die Busse eine Burka-Trägerin. In 32 Fällen traf die Busse vermummte Fussball- oder Eishockey-Fans, wie der «Bund» schreibt. Insgesamt 15 Kantone kennen bereits ein Vermummungsverbot. Dieses wurde vor allem in Kantonen mit grossen Sportclubs eingeführt, um zu verhindern, dass sich bei Versammlungen wie zum Beispiel Demonstrationen oder Fussballspielen Menschen vermummen. Für diese 15 Kantone würde sich bei den Hooligans und Demonstrant_innen nichts ändern, würde die Verhüllungsinitiative angenommen, aber künftig wären Vermummungen im öffentlichen Raum generell verboten. Die restlichen neun Kantone müssten neben einem Trageverbot für Burkas und Niqabs auch das Vermummungsverbot übernehmen.
Im Kanton St. Gallen wurden seit Einführung des Verhüllungsverbots noch gar keine Bussen ausgesprochen. Das wird unterschiedlich interpretiert. «Die Befürworter_innen wollten das Feindbild der verschleierten Frau heraufbeschwören. Das Verschleierungsverbot ist islamophob und ein Angriff auf unsere Religionsfreiheit», sagt Rebekka Schmid, Co-Präsidentin der Jungen Grünen in St. Gallen, gegenüber dem «Bund». «Jetzt haben wir ein Gesetz für etwas, was kein Problem darstellt.» Anders sieht das Patrick Dürr, Präsident der CVP St. Gallen. Er sagt, das Verbot habe dazu geführt, dass gar keine Bussen mehr ausgesprochen werden müssen: «Das Gesetz wirkt präventiv», ist Dürr überzeugt.
Burka und Niqab als Zeichen des Fundamentalismus?
Es existieren keine genauen Zahlen dazu, wie viele Frauen in der Schweiz eine Burka oder einen Niqab tragen. Eine Schätzung des Luzerner Islamwissenschaftlers Andreas Tunger-Zanetti geht davon aus, dass es schweizweit nicht mehr als 30 Frauen gibt, die ihr Gesicht verschleiern. Der Bundesrat hat 2010 in einer Antwort auf eine parlamentarische Frage die Zahl der Burkaträgerinnen in der Schweiz zu schätzen versucht, indem er die Anzahl Burkaträgerinnen in Frankreich (wo die Datenlage besser ist) auf die Schweizer Bevölkerung herunterrechnete. Er kam dabei zum Schluss, dass es in der Schweiz rund 95-130 Burka- oder Niqabträgerinnen gebe.
Den Unterschied zwischen den beiden Schätzungen erklären sich Expert_innen damit, dass in der Schweiz im Verhältnis mehr Muslim_innen leben, die einen moderaten Islam praktizieren, als dies in Frankreich der Fall ist. Dementsprechend seltener ist bei Musliminnen in der Schweiz die Burka oder die Niqab zu sehen. Die Initiant_innen sehen in Niqab und Burka Ausdrucksformen eines radikalen Islams. Umm Meryem, eine Schweizerin, die in ihrer Jugend zum Islam konvertiert ist und heute Niqab trägt, widerspricht: «Ich bin nicht fundamentalistisch, genauso wenig wie andere Frauen, die einen Niqab tragen. Salafismus, Wahhabismus – das sind neue Erfindungen, mit denen ich mich nicht identifizieren kann», sagt sie im Gespräch mit SRF.
Kontroverse Studie
Für Gegner_innen des Verhüllungsverbotes wie Yvonne Feri ist das Beispiel von Umm Meryem typisch: «Die wenigen Burka- oder Niqabträgerinnen, die in der Schweiz leben, sind Schweizerinnen, zumeist Konvertitinnen. Sie tragen die Burka oder den Niqab freiwillig.»
Zu diesem Befund kam auch Islamwissenschaftler Tunger-Zanetti, der 2020 eine vielbeachtete Studie als Buch veröffentlichte. Das Fazit dieser Studie in ihrer Kürzestform: Die meisten vollverschleierten Frauen tragen die Burka oder den Niqab freiwillig. Bundesrätin Karin Keller-Suter stützte sich auf die Befunde dieser Studie, als sie letzten Herbst den Abstimmungskampf gegen die Verhüllungsinitiative eröffnete. Der Studie schlägt aber auch Kritik entgegen: Sie sei unseriös und effekthascherisch. Denn Tungger-Zanetti hatte für seine Studie genau mit einer in der Schweiz lebenden Niqab-Trägerin gesprochen. Für alle anderen Schlüsse, die er aus seiner Studie zieht, stellte er auf international vergleichende Studien ab. Die «Weltwoche» bezeichnete Tunger-Zanettis Forschung deshalb als «Vodoo-Studie». Ihm ist das nicht unrecht: «Es war durchaus ein Ziel des Buches, die aktuellen Diskussionen zu beleben», sagt er im Gespräch mit dem «Tages-Anzeiger».
Gegenvorschlag beinhaltet Verhüllungsverbot
Für Monika Rüegger ist es nicht entscheidend, wenn mit der Verhüllungsinitiative nur ein paar wenige Frauen in der Schweiz geschützt werden: «Es ist egal, wie viele Frauen davon betroffen sind. Wir setzen uns für alle Frauen ein, damit sie nach unserem Recht ihre Freiheit leben können», so Rüegger. Yvonne Feri ist nicht einverstanden: «Ein Verbot der Burka schadet den Frauen, davon bin ich überzeugt. Sie müssten tendenziell zuhause bleiben, weil sie nicht mehr auf die Strasse dürften. Die Integration und Stärkung der Frauen muss über einen anderen Weg laufen.»
Dieser andere Weg sei vom Parlament auch schon ausgearbeitet worden, sagt Feri. Es handelt sich dabei um einen indirekten Gegenvorschlag zur Initiative. Er tritt dann in Kraft, wenn die Initiative abgelehnt und kein Referendum gegen den Gegenvorschlag ergriffen wird. Der Gegenvorschlag sieht vor, dass der Bund gezielt Projekte unterstützen kann, die die Gleichstellung der Geschlechter zum Ziel haben. «Der indirekte Gegenvorschlag stärkt die Frauenrechte», sagt Feri. Und: Auch er beinhaltet ein Verhüllungsverbot. Bei Terminen vor Behörden, zum Beispiel auf Amtsstellen oder auch bei Kontrollen im öffentlichen Verkehr, müsste das Gesicht gezeigt werden. Wer sich weigere, würde mit Bussen bestraft.
Bist du dafür, dass die Schweiz ein Verhüllungsverbot einführt? Oder bekämpfst du das Anliegen? Ganz egal, was deine Meinung ist: Nimm an der Abstimmung teil, stimme brieflich ab ab oder geh am 7. März an die Urne.
Burka oder Niqab?
Lange sprach man im Zusammenhang mit dem Verhüllungsverbot nur von der «Burka-Initiative». Dabei wurde angenommen, dass alle muslimischen Frauen, die ihr Gesicht verschleiern, automatisch Burka-Trägerinnen sind. Diese Annahme ist falsch. Denn neben der Burka existiert auch noch der Niqab – er wird in der Schweiz sogar häufiger getragen. Wir erklären dir den Unterschied.
Burka: Die Burka ist ein Kleidungsstück, das das Gesicht der Frau vollständig verhüllt. Es handelt sich dabei um die strengste Auslegung der Ganzkörper-Verschleierung. Damit die Frau etwas sieht, ist im Bereich der Augen ein Gitter aus Stoff oder Rosshaar eingelassen. Die Burka wird vor allem in Afghanistan getragen.
Niqab: Im Gegensatz zur Burka lässt der Niqab die Augenpartie frei. Haare, Stirn, Nase, Mund und Halspartie bleiben hingegen verhüllt. Der Niqab ist vor allem bei Frauen aus den Golfstaaten verbreitet.
Hijab: Der Hijab wird umgangssprachlich auch einfach Kopftuch genannt. Im Gegensatz zu Burka und Niqab vehüllt der Hijab das Gesicht nicht, sondern bedeckt bloss die Haare, Ohren und Halspartie der Frau. Der Hijab wird von Frauen in zahlreichen muslimisch geprägten Staaten getragen.
Alle Aussagen der in diesem Artikel vorkommenden Personen findest du im Video über diesem Beitrag.