24. November 2020

Briefwahl in der Schweiz: Zur Sicherheit doch an die Urne?

Briefwahlen sind eines der umstrittensten Themen nach den Präsidentschaftswahlen in den USA. Seitens der Republikaner_innen wurden und werden immer wieder Vorwürfe geäussert, dass es bei der brieflichen Wahl zu Betrugsversuchen gekommen und nur das Stimmen an der Urne wirklich sicher sei. Während es in den USA bisher nicht üblich war, ohne Begründung per Brief abstimmen zu dürfen und in diesem Jahr wegen COVID-19 eine Ausnahme gemacht wurde, ist die Briefwahl in der Schweiz hingegen schon seit 1994 im Schweizer Recht verankert. Discuss it fasst zusammen, wie die Briefwahl in der Schweiz funktioniert, welche Risiken sie birgt und ob sie bald durch E-Voting ersetzt werden könnte.

Wenn ein_e volljährige_r Schweizer Bürger_in seine oder ihre direktdemokratischen Rechte in der Schweiz ausüben möchte, so gibt es dazu zwei Möglichkeiten: Einerseits kann die Stimme bei Wahlen und Abstimmungen am Wahl- bzw. Abstimmungssonntag (und in manchen Kantonen auch schon früher) direkt an der Urne abgegeben werden; andererseits kann aber auch per Brief abgestimmt oder gewählt werden. Während im Jahr 2010 schon rund 75 Prozent aller Stimmen brieflich eingereicht wurden, sind es heutzutage aktuellen Schätzungen zufolge über 90 Prozent; der Kanton Aargau sprach 2017 sogar von 97 Prozent Briefwähler_innen. Briefstimmen haben den Vorteil, dass sie schon in den Wochen vor dem eigentlichen Abstimmungstermin zeitlich flexibel abgegeben werden können und somit möglicherweise mehr Bürger_innen zur Partizipation motivieren. Doch wie jüngste Entwicklungen in den USA zeigen, werden im Ausland immer wieder kritische Stimmen laut, die bei Briefwahlen ein erhöhtes Betrugsrisiko erkennen. Wie sicher jedoch ist die briefliche Stimmabgabe in der Schweiz? Ist es schon zu Betrugsversuchen gekommen? Und weshalb gibt es eigentlich noch kein E-Voting?

Die Briefwahl in der Schweiz

Die Briefwahl wurde in der Schweiz in den ersten Kantonen im Jahr 1978 eingeführt. Dies in der Hoffnung, die sinkende Wahlbeteiligung dadurch wieder erhöhen zu können, indem den Bürger_innen mehr zeitliche Flexibilität bei der Stimmabgabe gewährt wird. Zudem sollte es die briefliche Stimmabgabe auch Auslandschweizer_innen einfacher machen, sich am politischen Geschehen der Schweiz zu beteiligen. Seit 1994 ist die Briefwahl im Schweizer Recht als offizieller Kanal zur Stimmabgabe verankert, allerdings dauerte es danach noch über zehn Jahre, bis in allen Kantonen ein funktionierendes System etabliert war. Das Ziel, die Stimmbeteiligung zu erhöhen, konnte durch die Briefwahl zwar nicht erreicht werden, immerhin wurde ihr konstante Abwärtstrend auf diese Weise aber gestoppt. Wissenschaftler_innen gehen allerdings davon aus, dass die Briefwahl nicht unbedingt neue Wähler_innen anzieht, sondern eher diejenigen, die sich ohnehin schon politisch beteiligen.

In der Schweiz ist es nicht nötig, sich für die Stimmabgabe zu registrieren. Stattdessen bekommt jede_r stimmberechtigte Bürger_in das Abstimmungsmaterial drei bis vier Wochen vor dem eigentlichen Abstimmungstermin durch den Kanton per Post zugestellt. Mit den Abstimmungsunterlagen und einem Ausweis kann dann entweder direkt an der Urne oder aber bis kurz vor dem Stichtag auch brieflich abgestimmt werden. Das genaue Prozedere, beispielsweise wie lange per Post abgestimmt werden darf und ob der Rückumschlag selbst frankiert werden muss, ist von Kanton zu Kanton verschieden. Ausserdem stellen die meisten Gemeinden auch Briefkästen auf, in die das Stimmmaterial direkt eingeworfen werden kann. Obwohl die brieflichen Stimmen so teilweise sehr früh bei der Gemeinde eintreffen, dürfen die Stimmcouverts erst am Abstimmungssonntag selbst geöffnet und ausgezählt werden, um eine Beeinflussung der Bevölkerung durch die bisher abgegebenen Stimmen zu verhindern.

Gleichheit und Wahlgeheimnis

In der Schweiz gilt einerseits das Stimm- und Wahlgeheimnis, das besagt, dass jede_r seine oder ihre Stimme anonym abgeben darf, ohne dass nachverfolgt werden kann, wer für oder gegen eine Vorlage – respektive eine_n Politiker_in – gestimmt hat. Gleichzeitig muss aber auch sichergestellt werden, dass die Gleichheit zwischen den Bürger_innen eingehalten wird und jede_r höchstens eine Stimme abgibt. Aus diesem Grund wird in der Schweiz den Bürger_innen das Stimmmaterial direkt nach Hause zugestellt, damit alle Stimmberechtigten nur einen offiziellen Stimmzettel erhalten und somit nur einmal wählen oder abstimmen gehen können. Dieser Stimmzettel muss entweder ausgefüllt und abgegeben oder aber vernichtet werden, damit er nicht von anderen missbraucht werden kann. Zudem müssen sich die Stimmenden identifizieren; an der Urne geschieht dies mit einer Identitätskarte, bei brieflicher Abstimmung mittels einer Unterschrift. Damit später nicht nachverfolgt werden kann, wer welche Stimme abgegeben hat, wird der Stimmzettel in einem separaten, neutralen Umschlag eingereicht, der später vom unterschriebenen Stimmausweis getrennt wird. Sobald die Unterschrift geprüft und der oder die Stimmende als stimmberechtigt bestätigt wurde, wird der anonyme Umschlag mit dem Stimmzettel auf einen Stapel mit gültigen Stimmen gelegt und kann nicht länger zur stimmenden Person zurückverfolgt werden.

Wurde das Wahlmaterial ohne gültige Unterschrift eingereicht oder der Stimmzettel mit zusätzlichen Notizen oder Zeichnungen versehen, so ist die abgegebene Stimme ungültig. Sie wird aussortiert und nicht gezählt, fliesst also am Schluss nicht ins Wahlergebnis mit ein. Das gilt allerdings nicht für sogenannte Leerstimmen (nicht ausgefüllte Stimmzettel), die separat ausgezählt und aufgeführt werden. Die Überprüfung der Gültigkeit der Stimmen und deren Auszählung geschieht in der Schweiz generell nach dem Vieraugenprinzip. Das bedeutet, dass eine Person die Stimmen sortiert und die andere ihr dabei zuschaut, um sie auf allfällige Fehler hinzuweisen. Die konkrete Auszählung der Stimmen wird zudem oft maschinell durchgeführt, sodass das Ergebnis weniger anfällig für Flüchtigkeitsfehler ist. Das alles sind Mechanismen, um die Anonymität und die Legalität der Stimmabgabe einzuhalten. Dennoch ist es in der Schweiz in den letzten Jahrzehnten auch immer wieder zu Betrugsversuchen gekommen.

Betrugsversuche

Es gibt verschiedene Möglichkeiten, bei Wahlen und Abstimmungen in der Schweiz zu betrügen. So füllen manche Menschen die Stimmzettel ihrer Lebensgefährten, Kinder oder Eltern aus, Stimmen können gekauft und fremde Stimmzettel bei der Zustellung per Post oder aus dem Müll gestohlen werden. Ausserdem könnten die ausgefüllten Stimmzettel später bei der Auszählung verändert oder zerstört werden. Das alles sind illegale Aktivitäten, auf die in der Schweiz Geld- oder Gefängnisstrafen stehen.

Die meisten Fälle von Wahlbetrug, die in der Schweiz bisher aufgedeckt wurden, betreffen Politiker, die fremdes Wahlmaterial ausgefüllt haben. So wurden bei den Grossratswahlen 2006 44 Wahlzettel mit der Handschrift von SP-Politiker Richard Lumengo gefunden, ein Jahr zuvor wurde SVP-Politiker Armin Meier beim Fälschen von 130 Stimmzetteln bei den Gemeindewahlen erwischt. Auch Ex-FDP-Grossrat Walter Hammel (hat bei den Grossratswahlen 2004 126 Wahlumschläge eingesammelt und davon 20 unterschrieben verschickt) und der ehemalige CVP-Gemeinderat Linus Dobler (hat bei den Gemeinderatswahlen 2001 über 100 Wahlcouverts entgegengenommen, ausgefüllt und unterschrieben) wurden für das Fälschen von Wahlunterlagen verurteilt. Es ist in der Schweiz also durchaus schon zu Betrugsversuchen aus dem ganzen Parteienspektrum gekommen, allerdings geschieht dies relativ selten und betrifft jeweils nur eine ziemlich geringe Anzahl Stimmen. Wahlentscheidend war bisher nur einer dieser Betrugsversuche (siehe hier). Alles in allem ist die Briefwahl in der Schweiz also eine sehr sichere Möglichkeit zur Stimmabgabe.

E-Voting: Die Zukunft der Briefwahl?

Während die Schweizer_innen aktuell lediglich per Brief oder an der Urne abstimmen können, ist das E-Voting in Estland schon seit 2005 flächendeckend möglich und etwa 20 Prozent der estnischen Stimmen werden heutzutage online abgegeben. Auch in der Schweiz wird die Möglichkeit der virtuellen Stimmabgabe immer wieder diskutiert. Diese birgt allerdings gewisse Risiken der Cyber-Sicherheit, denn falls das E-Voting gehackt würde, könnten die Stimm- und Wahlergebnisse manipuliert werden, ohne dass die ursprünglichen Ergebnisse nachvollziehbar bleiben würden. Deshalb sind bei E-Voting-Programmen die individuelle sowie die universelle Verifizierbarkeit relevant. Das bedeutet, dass einerseits sichergestellt werden muss, dass der oder die Stimmende auch tatsächlich er oder sie selbst ist, zum Beispiel indem ein individueller Code eingegeben wird, der zuvor per Post zugestellt wurde. So kann auch garantiert werden, dass alle Stimmberechtigten weiterhin genau eine Stimme abgeben können. Andererseits muss die Auszählung der Stimmen aber auch universell auf möglichst viele unabhängige Weisen bestätigt werden, sodass Hacker_innen nicht nur eines sondern ganz viele Systeme angreifen müssten, um ein Wahl- oder Abstimmungsergebnis zu manipulieren.

Wie schon bei der Briefwahl ist ein Hauptziel des E-Votings, die Wahlteilnahme für Auslandschweizer_innen weiter zu erleichtern. Deshalb wurde in der Schweiz schon im Jahr 2000 das Projekt «Vote électronique» ins Leben gerufen. Genf startete 2004 als erster Kanton die Testphase eines eigens entwickelten E-Voting-Systems, ein Jahr später folgten Neuenburg mit einem System, das unter anderem von der spanischen Firma Scytl stammt, und Zürich mit einem eigens entwickelten Programm. Seinen Höhepunkt erreicht das E-Voting in der Schweiz 2010 mit Pilotprojekten in insgesamt zwölf Kantonen. Allerdings kam es im In- und Ausland immer wieder zu Kritik an der Sicherheit der Systeme, sodass die Kantone rund um das Zürcher System das E-Voting 2015 einstellten. Nach öffentlichen Tests der Quellcodes der übrigen beiden Systeme wurde 2018 und 2019 auch deren Fehleranfälligkeit nachgewiesen und die E-Voting Versuche in Neuenburg und Genf wurden ebenfalls gestoppt. Der Bundesrat hat letzten Sommer schliesslich entschieden, die flächendeckende Einführung der elektronischen Stimmabgabe vorerst auf Eis zu legen. Auch Stimmbürger_innen wollen durch eine eidgenössische Initiative bewirken, dass dies auch noch mindestens die nächsten fünf Jahre so bleibt.

Beim E-Voting sind die Risiken also aktuell noch zu hoch und es sieht aus, als müssten die Schweizer_innen weiterhin Vorliebe mit der Stimmabgabe an der Urne und besonders per Brief nehmen. Immerhin haben sich diese beiden Systeme in der Schweiz in den letzten Jahrzehnten als sichere, bewährte Stimmkanäle herausgestellt – und werden es wohl auch bei den aktuellen Abstimmungen bleiben. Wie sieht’s bei dir aus? Hast du deine Stimme brieflich abgegeben oder gehst du diesen Sonntag an die Urne?