Die letzten grossen Prüfungen. Der ganze Schulstoff von der Mittelschule aufgearbeitet. Die Krönung von drei oder vier Jahren Schule. Drei oder vier? Das kann variieren, denn die Schulzeit ist in der Schweiz kantonal geregelt. Genau wie auch die Abschlussprüfungen in der momentanen Ausnahmesituation der Corona-Pandemie 2020. Lange hat es gedauert, bis Bundesentscheide gefällt wurden. Nun findet man eine Vielzahl an Lösungen und Beschlüssen. Damit wird es auch verschiedene Abschlüsse geben. Diese sollen aber alle gleich gewertet werden. Wie argumentieren die Kantone? Und vor allem was sagen die betroffenen Schüler_innen zu dieser Situation? Diese Fragen sollen in diesem Blog behandelt werden. Ausserdem wurden drei Schüler_innen von Discuss it nach ihren Meinungen gefragt. Mehr dazu im Video.
Der Entscheid des Bundesrates am 13. März 2020, dass alle Schweizer Bildungseinrichtungen geschlossen werden, kam schnell und überraschend. Im Gegensatz zu diesem schnellen Entscheid blieb jedoch lange unklar, wie die diesjährigen Abschlussprüfungen gehandhabt werden.
Am 9. April 2020 wurde dann der Bundesentscheid über die Lehrabschlussprüfungen (LAPs) gefällt. Schulische Prüfungen werden landesweit nicht durchgeführt. Bei den praktischen Prüfungen wurden je nach Berufsgattung allgemeingeltende Lösungen gefunden.
Bis Ende April stand die Entscheidung bezüglich Maturitätsprüfungen der kantonalen Gymnasien noch aus. Der Bundesentscheid fiel letztendlich auf die freie Wahl der Kantone, ob mündliche und/oder schriftliche Abschlussprüfungen durchgeführt werden. So erhalten die Kantone die Freiheit, sich den unterschiedlichen Begebenheiten bezüglich der Corona-Pandemie anzupassen. Dadurch kann ein stark betroffenes Tessin anders handeln, als beispielsweise der Kanton Thurgau, welcher rund 3‘000 weniger bestätigte Fälle der Coronavirus- Erkrankungen hatte (Stand 19.6.2020).
Das lange Warten während diesen Entscheidungen zog Unsicherheit und Verwirrung mit sich. Und nun herrschen gemischte Emotionen bezüglich Abschluss an den Mittelschulen.
Ist die (Berufs-)Maturität gleich zu werten, wenn sie mit oder ohne Abschlussprüfungen erreicht wurde? Sind die Schüler_innen, welche dem Druck der letzten Prüfungen nicht standhalten mussten, trotzdem gut auf das Berufsleben oder eine tertiäre Ausbildung vorbereitet? Immerhin anerkennen die Hochschulen alle Maturitätsausweise – ungeachtet dessen, ob schriftliche und/oder mündliche Abschlussprüfungen durchgeführt wurden.
Aber wieso wird ein solches Thema überhaupt kantonal entschieden und was denken die, die am stärksten vom Thema betroffen sind: die Schüler und Schülerinnen?
Die Situation in der Schweiz
Die Handhabung nationaler Entscheidungen während der Coronavirus-Zeit war und ist von Land zu Land verschieden. In der Schweiz wurden viele übergreifende Entscheide auf Bundesebene getroffen. Aufgrund der vertikalen Gewaltenteilung – des Föderalismus – gab es jedoch auch einige Punkte, welche kantonal gehandhabt wurden.
Der Föderalismus bezeichnet das staatliche Organisationsprinzip der Schweiz. Dies bedeutet, dass Kompetenzen zwischen dem Bund, den Kantonen und den Gemeinden aufgeteilt werden. Der Bund braucht hierbei – nach Vorbild des Subsidiaritätsprinzip – die Verfassung als sogenannten Auftraggeber, welche ihm die Handlungskompetenzen überträgt. Wird nun eine Aufgabe nicht explizit per Bundesverfassung dem Bund zugeteilt, fällt sie auf Kantone und Gemeinden zurück. Ein Beispiel hierfür sind die Schulen.
Durch die vertikale Gewaltenteilung sind die Kompetenzen und Entscheidungen stärker verteilt. Der Föderalismus ermöglicht somit das Ausleben der schweizerischen Vielfalt – sei dies regional oder lokal – und damit auch einen verstärkten und ankurbelnden Wettbewerb zwischen Kantonen und Gemeinden, beispielsweise in Bezug auf den Steuerfuss.
Auf der Kehrseite bedeutet Föderalismus aber auch uneinheitliche Regelungen. Wie in dem hier diskutierten Fall der Abschlussprüfungen, kann unser Organisationsprinzip zu Ungleichheiten führen. Ausserdem brauchen Entscheidungen durch die vertikale Gewaltenteilung tendenziell eher länger.
Teildurchführungen, Absagen, Sonderregelungen – die Argumente der Kantone
Während die Entscheidung in Bezug auf die LAPs klar vorsieht, dass keine schulischen Prüfungen durchgeführt werden, blieb den Kantonen bei den Abschlussprüfungen der Mittelschulen die freie Wahl.
In der kantonalen Übersicht zeigt sich ein gemischtes Bild. So führten Kantone wie Aargau, Schwyz, oder auch Luzern die schriftlichen Prüfungen durch. Auch mündliche Prüfungen fanden in gewissen Kantonen statt.
Andere Kantone wie beispielsweise Bern oder Basel-Landschaft verzichteten gänzlich auf Abschlussprüfungen und stellten die Maturitätsausweise auf Basis von Erfahrungsnoten aus.
«Die Matura 2020 soll später nicht als ‹Zweitklass-Matura› bezeichnet werden können,» schreibt der Erziehungsrat des Kantons Schwyz in einer Mitteilung. Die Abschlussprüfungen seien ein wichtiger Teil der Ausbildung, und würden weiter auch als Ausgangslage für eine tertiäre Weiterbildung dienen.
Auch der Kanton Aargau argumentiert mit der grundlegenden Aufarbeitung des gesamten Curriculums. Ausserdem sei es essentiell, die Qualität und Gleichwertigkeit der Maturitätszeugnisse zu gewährleisten.
Andererseits befinden sich Schüler_innen seit geraumer Zeit im Fernunterricht. Faire Prüfungen seien unter diesen Umständen nicht möglich. Auf dieser Grundlage sagen Kantone wie Basel-Landschaft und Bern die Abschlussprüfungen ab. Die weiterhin bestehenden Gesundheitsrisiken war hierbei ein weiteres ausschlaggebendes Argument.
Der Entscheid ist kein einfacher, und direkt von ihm betroffen sind weder Politiker_innen, noch Erziehungsdepartements, sondern Schülerinnen und Schüler.
Lange schwebten sie in Ungewissheit. Deshalb suchte Discuss it mit drei Schüler_innen das Gespräch. Das Video dazu befindet sich oben.
«Mir ging es eher um die lange Wartezeit»
Das sagte Rahel Heini, Maturandin an der Kantonsschule Alpenquai im Kanton Luzern, als sie sich zum Thema der Abschlussprüfungen äusserte. Ob die Prüfungen an sich geschrieben werden oder nicht, war nicht mehr das, was sie beschäftigte. Viel mehr belasteten die langen Diskussionen die Schülerin.
Neben Rahel liessen uns auch Julia Hodel, Maturandin der Kantonsschule Olten im Kanton Solothurn, und Ibrahim Gebeili, Informatik-Lehrling und Abgänger der Berufsschule Baden in Kanton Aargau, an ihren Erfahrungen teilhaben.
Im Gespräch wurde die Situation der Abschlussprüfungen, aber auch generell der Fernunterricht angesprochen.
Dabei wurde das Thema der Digitalisierung und der unterschiedlichen Gegebenheiten im Fernunterricht von Julia aufgegriffen: «Es hat lange gedauert, bis ich mich sinnvoll eingependelt habe und mich so einrichten konnte, dass ich effizient arbeiten konnte», erklärte sie. Im Gegensatz dazu hatten Rahel, die in einer BYOD (Bring Your Own Device) Klasse war, und Ibrahim, der durch seinen Job gezwungenermassen viel mit Technik zu tun hat, weniger Probleme bezüglich ihrer technischen Einrichtung.
Diese unterschiedlichen Gegebenheiten können sich allenfalls auf Vorbereitungen für Prüfungen auswirken. Die Chancenungleichheit in Bezug auf die Digitalisierung im Fernunterricht wurde bereits im letzten Discuss it-Blog thematisiert. Den Blog-Eintrag dazu findet ihr hier.
Zum Konzept der Schule und zum Lernen gehört unter anderem zu einem grossen Teil auch der soziokulturelle Aspekt. Sowohl Ibrahim, als auch Rahel, betonten während des Gesprächs, dass der Kontakt mit Lehrpersonen und Mitschüler_innen, sowie das gemeinsame Arbeiten und Lernen, essentiell für die Schulbildung seien.
Die durch den Fernunterricht gegebene zusätzliche Freiheit und Selbstständigkeit ist ein weiteres Thema, welches von den drei Schüler_innen angesprochen wurde.
Das selbstständige Einteilen der Zeit, und wie viel Zeit und Arbeit man wofür investiert, sei ein grosser Pluspunkt der aktuellen Situation. Diese ungewohnte Form des Lernens sei Fluch und Segen zugleich gewesen. Denn die Eigenverantwortung, auch wirklich etwas zu machen – auch wenn keine Lehrperson neben einem steht – sei schwierig, und das habe man auf jeden Fall auch lernen müssen.
Föderalismus – notwendige Vielfalt oder unfaire Ungleichheit?
Die Erfahrungen der Schüler_innen zeigen, dass sowohl Argumente für, als auch Argumente gegen die Durchführung der Abschlussprüfungen während der Corona-Pandemie gerechtfertigt sind. Diese Vielfalt spiegelt sich nun in den verschiedenen Situationen in den Kantonen wider.
Der Föderalismus bietet Vor- und Nachteile – wie jedes staatliche Organisationsprinzip.
In der Schweiz wird die kulturelle, sprachliche, und regionale Vielfalt unter anderem durch den Föderalismus geschützt und ermöglicht.
Ausnahmesituationen wie die Corona-Pandemie testen solche Systeme und bringen sie oft an ihre Grenzen. Das Beispiel der Abschlussprüfungen der Maturitäts- und Berufsmaturitätsschulen zeigt, dass vor allem die Ungewissheit durch die lange Dauer bei Entscheidungen ein Problem darstellen kann.
Diese Ausnahmesituation hat sowohl Schüler_innen, als auch Schulen und Kantone auf die Probe gestellt und alle in eine schwierige Lage versetzt. Wie Maturandin Julia im Gespräch schon angetönt hat: Prüfung hin oder her – was in dieser Zeit gelernt wurde, und auch weiterhin gelernt wird, ist das, was zukunftsweisend sein wird.
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