Was macht die ausserordentliche Lage mit unserer individuellen Freiheit? Drei Politiker und eine Politologin bewerten die Massnahmen des Bundesrats – und sagen, ab wann mit Widerstand zu rechnen ist.
Wer in der Schweiz noch vor wenigen Wochen eine Strassenumfrage gestartet hätte und von den Leuten hätte wissen wollen, was für sie individuelle Freiheit bedeutet, hätte verschiedenste Antworten erhalten. Individuelle Freiheit ist, sich frei in der Gesellschaft bewegen zu können. Zeit zu verbringen, wo und mit wem man das am liebsten tut. Individuelle Freiheit ist, frei entscheiden zu können, was man wann konsumiert. Individuelle Freiheit ist ein Bier mit Freunden am Seeufer nach Feierabend.
Erst jetzt, fast auf den Tag genau einen Monat nachdem der Bundesrat in der Schweiz die ausserordentliche Lage ausgerufen hat, beginnen wir uns langsam, bewusst zu werden, dass unsere individuelle Freiheit nicht so selbstverständlich ist, wie wir dies vor kurzem vielleicht angenommen haben. Das Bier mit Freunden am Seeufer nach Feierabend, es hat schon längere Zeit nicht mehr stattfinden dürfen.
Eingeschränkte Freiheit
Tatsächlich ist der Begriff individuelle Freiheit ein etwas schwammiger Begriff für all das, was uns als Bürgerinnen und Bürger mittels Grundrechten in der Verfassung garantiert ist. Mit den Massnahmen, die der Bundesrat zwischen dem 13. und dem 16. März entschieden hat, sind diese Grundrechte arg auf den Prüfstein gestellt worden. «Die Bewegungs- und Versammlungsfreiheit, aber auch die Wirtschafts- und Gewerbefreiheit wurden vom Bundesrat eingeschränkt», erklärt Sarah Bütikofer, Politologin an der Universität Zürich. «Das sind recht weitgehende Einschränkungen. Aber Grundrechte dürfen eingeschränkt werden, wenn eine gesetzliche Grundlage vorhanden ist – und das ist in der Schweiz der Fall.»
Tatsächlich sind die Einschränkungen der Freiheitsrechte durch das Epidemiegesetz abgesichert. Die Schweizer Bevölkerung hat diesem Gesetz, das dem obligatorischen Referendum unterstand, im September 2012 mit 60 Prozent zugestimmt. Politologin Bütikofer betont, wie wichtig das ist: «In der Schweiz durfte die Bevölkerung darüber abstimmen, ob sie in einem solchen Ausnahmezustand der Regierung so viele Kompetenzen übertragen möchte. Das ist in anderen Staaten nicht der Fall.» Eine solche Absicherung durch die Bevölkerung verstärke das Vertrauen in den Bundesrat.
Discuss it im Homeoffice
Eines der für eine freie Gesellschaft wichtigsten Grundrechte ist die Meinungsäusserungsfreiheit. Sie ist per se nicht eingeschränkt worden. Allerdings gestaltet sich die Lage, gerade für Vereine wie Discuss it, die es sich zum Ziel gesetzt haben, die politische Meinungsbildung in der Schweiz zu stärken, schwierig: Wo sich Leute nicht versammeln dürfen, um gemeinsam verschiedene Standpunkte und Meinungen auszutauschen, da auch keine Podien, auf denen diskutiert würde. Die Schulen, die den Veranstaltungsort bildeten für diese Podien, sind geschlossen. Deshalb setzt Discuss it im Moment vor allem auf digitale Mittel, um seinen selbstgegebenen politischen Informationsauftrag weiterhin erfüllen zu können.
So haben wir uns – aus dem Homeoffice, wie es sich gehört – mit verschiedenen Politikern und einer Expertin virtuell getroffen und sie zu ihren Einschätzungen zur Corona-Krise und den Massnahmen des Bundesrats befragt.
Kein Grund für Verschärfung
«Ich glaube, der Bundesrat hat den goldenen Mittelweg gefunden», sagt Lorenz Schmid, der für die CVP im Zürcher Kantonsrat politisiert. Würde der Bundesrat die Bewegungsfreiheit noch mehr einschränken, würde es seiner Meinung nach heikel: «Ich glaube, da befinden wir uns auf einer Grenze. Für mein Empfinden wäre das eine enorme Einschränkung.» Schmid, der selbst am Coronavirus erkrankt war, mittlerweile aber vollständig genesen ist, ist zuversichtlich, dass es nicht so weit wird kommen müssen. Wenn sich die Bevölkerung an die Massnahmen hält, gebe es keinen Grund für den Bundesrat, die Massnahmen zu verschärfen.
Andri Silberschmidt, freisinniger Neo-Nationalrat im Kanton Zürich, sieht das ähnlich: «Es ist ein gutschweizerischer Kompromiss – man fällt weder ins eine noch ins andere Extrem.» Als Liberaler finde er, dass der Staat nur dort in die Freiheit eingreifen dürfe, wo man mit eigenem Verhalten die Freiheit der anderen einschränkt. Das sei bei einer möglichen Virus-Infektion sicher der Fall. Silberschmidt relativiert aber: «Man muss schon schauen, dass solche Eingriffe in die Grundrechte, wenn überhaupt, nur in äussersten Notfällen vorgenommen werden.»
«Politischer Lockdown»
Ganz anders sieht das Urs Hans, der für die Grünen im Zürcher Kantonsrat sitzt. Hauptberuflich ist er Landwirt: Wegen Corona ist praktisch sein ganzer Absatz zum Erliegen gekommen. Wochenmärkte, auf denen Hans für gewöhnlich seine Produkte verkaufte, sind geschlossen. «Im Prinzip lehne ich alle vom Bundesrat getroffenen Massnahmen ab», sagt er und weicht damit von der Haltung seiner Partei ab. Seiner ganz persönlichen Ansicht nach sei das Coronavirus nicht gefährlicher als eine gewöhnlich verlaufende Grippe. Denn: Bei schweren Grippewellen wie in Italien 2017 würden mehr Leute sterben, als dass jetzt beim Coronavirus der Fall sei: «Da wird eine einzige grosse Panikkampagne geführt», so Hans. Und noch etwas anderes stört den Milizpolitiker: Das politische System der Schweiz sei ausgehebelt, befürchtet er: «Der Bundesrat vertraut vollumfänglich auf die Experten des Bundesamts für Gesundheit. Aber diese Experten sind nicht vom Volk gewählt! Was wir jetzt erleben, ist ein politischer Lockdown.»
Dem widerspricht Politologin Bütikofer. Das politische System funktioniert, auch weil die Gesetzesgrundlage, auf die die Massnahmen abstützen, von der Bevölkerung legitimiert sei. Abgesehen davon seien wichtige Grundrechte wie die Meinungsfreiheit oder Wissenschaftsfreiheit von den Massnahmen nicht tangiert: «Im Moment geben ganz viele Experten in den Medien Auskunft – und vertreten dabei zum Teil auch Positionen, die von der offiziellen abweichen.» Es sei wichtig, dass der Zugang zu den unterschiedlichen Informationsquellen gewährleistet bleibe. Und auch für Bütikofer ist klar: «Sobald die Bevölkerung nicht mehr nachvollziehen kann, warum man jetzt weitere weitgehende Massnahmen ausspricht und warum man jetzt noch mehr Freiheitsrechte einschränkt, ist sicherlich Widerstand zu erwarten.»
Sport, frische Luft – und ein Stehpult
Andri Silberschmidt indes hat einen Tipp an alle im Homeoffice: «Macht viel Sport, geht an die frische Luft – aber nur alleine! Ernährt euch gesund – und schafft euch, wenn ihr arbeiten müsst, ein Stehpult an. Nicht dass man sich wegen Corona noch den Rücken kaputt macht.» Alles ohnehin viel gesünder als Biertrinken am See.
Alle Aussagen der Politiker und der Expertin sowie eine Chronologie der Ereignisse in der Schweiz findest du im Video über diesem Blogbeitrag.
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