29. April 2020

Corona, Notrecht und Gewaltenteilung

Das Schweizer Parlament weilt seit dem 16. März im «Zwangsurlaub» und der Bundesrat darf selbständig Massnahmen beschliessen – das Coronavirus stellt nicht nur den Alltag der Schweizerinnen und Schweizer, sondern auch die Politik auf den Kopf. Ständeratspräsident Hans Stöckli (SP BE) und Nationalrat Andreas Glarner (SVP AG) diskutieren mit Discuss it über die Gefahren sowie die Risiken dieser Massnahmen und darüber, wie es mit der Schweiz nun weitergeht.


Zahllose Menschen arbeiten in der Schweiz derzeit im Homeoffice. Sie fahren also nicht wie gewohnt jeden Tag zur Arbeit, sondern üben ihren Beruf von zuhause aus. Doch nicht nur Lehrpersonen oder Bankkaufleute sind gerade im Homeoffice, auch das Schweizer Parlament wurde am 16. März vorzeitig vom Bundesrat heimgeschickt. Während die anderen aber von zuhause aus weiterarbeiten können, haben die Parlamentarierinnen und Parlamentarier gerade «Zwangsurlaub».

Demokratie ohne Parlament?

In der Schweiz gilt seit 1848 das Prinzip der Gewaltenteilung. Das bedeutet in der Theorie, dass die politische Macht aufgeteilt wird zwischen den drei «politischen Gewalten», also der Exekutive, der Legislative und der Judikative. In der Schweiz ist die Exekutive der Bundesrat, der die ausübende Macht hat und die beschlossenen Gesetze umsetzt. Gemacht werden diese Gesetze grundsätzlich von der Legislative – in der Schweiz sind das der National- und Ständerat, die gesetzgebende Macht. Die Einhaltung und Rechtmässigkeit der Gesetze wird schliesslich von der Judikative geprüft. In der Schweiz ist diese rechtsprechende Macht das Bundesgericht. In der Realität sind diese Gewalten zwar nicht immer so klar getrennt wie in der Theorie, dennoch soll die Gewaltenteilung sicherstellen, dass niemand über zu viel Macht verfügt und diese missbrauchen kann.

Doch obschon die Gewaltenteilung wichtig ist, gibt es manchmal Situationen, in denen sie kurzfristig ausser Kraft gesetzt werden kann. Eine solche Situation ist zum Beispiel eine Epidemie, bei der in der Schweiz das am 22. September 2013 beschlossene Epidemiengesetz Anwendung findet. Darin ist festgehalten, dass der Bundesrat in einer ausserordentlichen Lage für die ganze Schweiz selbständig Massnahmen beschliessen darf, was normalerweise Aufgabe des Parlaments ist und von den Kantonen und vom Volk legitimiert wird. Durch diese Massnahme kann der Bundesrat schneller Entscheidungen treffen, um frühzeitig auf das Coronavirus zu reagieren. Nachdem COVID-19 Anfang März die Schweiz erreicht hat, hat der Bundesrat am 16. März eine ebensolche ausserordentliche Lage ausgerufen.

Was darf der Bundesrat?

Der Bundesrat darf deshalb jetzt selbständig Massnahmen beschliessen, die während der Corona-Pandemie gelten. Aber der Bundesrat darf nicht nur neue Verordnungen erlassen, er darf auch bestehende Gesetze beschneiden. So sind mit den aktuellen Massnahmen im Moment trotz Lockerungen weiterhin viele Grundrechte in der Schweiz eingeschränkt, beispielsweise das Recht auf Versammlungsfreiheit, Bewegungsfreiheit oder durch die Schliessung der Schulen auch der Anspruch auf eine Grundschulbildung. Ausserdem hat der Bundesrat die eidgenössischen Volksabstimmungen vom Mai verschoben und es dürfen zurzeit auch keine Unterschriften mehr für Initiativen oder Referenden gesammelt werden. Das schränkt die Demokratie, wie wir sie kennen, stark ein.

Die  beiden Parlamentarier  Andreas Glarner und Hans Stöckli sind mit der Arbeit des Bundesrats aber bisher zufrieden. «Wir haben ja eine Notlage und in der Notlage ist es angesagt, dass die Exekutive entsprechend führen darf. Sie hat das bisher mit Augenmass gemacht», so Andreas Glarner. Auch Hans Stöckli sieht der erweiterten Macht des Bundesrats gelassen entgegen: «Krisenzeiten sind Regierungszeiten. Und die Verfassung gibt dem Bundesrat die Verpflichtung und das Recht, Notverordnungen zu erlassen.» Gemäss Verfassung müssen diese Verordnungen aber zeitlich beschränkt, verhältnismässig und zweckgebunden sein – die zusätzliche Macht des Bundesrats ist dementsprechend nicht absolut.

Was kann das Parlament?

Etwas unterschiedlicher sehen die beiden Politiker allerdings die Rolle des Parlaments in den aktuellen Krisenzeiten. Hans Stöckli merkt als aktueller Ständeratspräsident an, dass das Parlament keineswegs Ferien macht, sondern auch aus dem Homeoffice so gut es geht in den Kommissionen weitergearbeitet und mit Videokonferenzen Kontakt gehalten wird. So wollen sie sich auf die ausserordentliche Session vorbereiten, die am 4. Mai beginnt und in der vorwiegend Geschäfte rund um das Coronavirus behandelt werden sollen. Nach dieser Session haben nicht nur 32 Ständerätinnen und Ständeräte, sondern auch der Bundesrat verlangt.

Für Hans Stöckli ist das Treffen wichtig, damit National- und Ständerat in dieser Krisenzeit weiterhin Verantwortung tragen können. «Das Parlament muss auch in einer Notsituation die Überwachungsaufgabe als oberste Instanz in diesem Staat übernehmen», findet er. Andreas Glarner sieht die Rolle des Parlaments in der aktuellen Situation etwas resignativer. Er findet, dass die Politikerinnen und Politiker dem Bundesrat auch ohne Session Tipps geben können und sieht die Aufgabe von National- und Ständerat am 4. Mai vor allem darin, die bereits getroffenen Massnahmen vom Bundesrat im Nachhinein abzunicken. «Wir werden dort ja einfach Sachen absegnen, die schon entschieden sind, wo das Geld schon ausgegeben ist.» Er glaubt nicht, dass das Parlament eine bedeutungsvolle Aufgabe übernehmen wird, so lange das Notrecht gilt.

Wie geht es weiter?

Das Treffen der Parlamentarierinnen und Parlamentarier am 4. Mai findet übrigens nicht wie sonst im Bundeshaus statt, sondern in der Berner Expo-Halle, um die Abstandsregeln und Sicherheitsvorkehrungen einhalten zu können. Ziel dieser ausserordentlichen Situation wird es gemäss Hans Stöckli sein, den Bundesrat zu loben, aber auch erste Kritik an den Massnahmen zu üben und Veränderungen vorzuschlagen. Damit will das Parlament dem Bundesrat jedoch keineswegs die Rolle streitig machen. «Bevor wir selber aktiv werden, wollen wir dem Bundesrat die Möglichkeit geben, die nötigen Verfeinerungen und Präzisierungen selbst vorzunehmen», so Hans Stöckli.

Dass der Bundesrat durch das Notrecht mehr Macht hat als bisher, scheint im Schweizer Parlament unterm Strich also keine Besorgnis auszulösen. Das Parlament ist damit einverstanden, dem Bundesrat während der Krise den Vorrang zu lassen, vielleicht auch deshalb, weil der Bundesrat mit seiner zusätzlichen Macht bisher verantwortungsvoll umgegangen ist. Ob die Politikerinnen und Politiker aber weiterhin so zufrieden bleiben, wird sich in den kommenden Wochen bei den Lockerungen der Corona-Massnahmen zeigen. Gemäss Andreas Glarner ist der Bundesrat jedenfalls noch nicht aus der Mangel: «Die Manöverkritik, die kommt im Nachhinein, nach dem Manöver. Und da gibt es bestimmt eine Menge aufzuarbeiten.»

Alle Aussagen der Politiker sowie eine Erklärung zur horizontalen Gewaltenteilung in der Schweiz findest du im Video über diesem Blogbeitrag.


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